Die Kunst aber ist der Wein der Kultur, ihr Lebenselixier. Eine Mauer ohne Leben und Kunst mauert; schneidet ab, stößt ab, trennt ab, tötet, vereinsamt. Die Mauer, in der das Leben liegt - der Wein -, an dem sich die Kunst versucht, schützt ohne zu töten, bewahrt Leben und lässt es reifen, sammelt und wärmt. Die Mauer aus Leben und Kunst erfüllt ihre Schutzfunktion; erfüllt sie im doppelten Sinn: übt sie aus und erschöpft sie. Wir müssen uns schützen, doch wir können uns nicht immer, überall und unendlich schützen. Die Mauer stößt auf ihre Mauer. Die Mauer ist ein Symbol für die Vorläufigkeit und Unvollkommenheit des Menschen. Sie ist notwendig, doch nur dann, wenn sie hilft, die Not zu wenden, und errichtet werden kann, um einmal - das ist unser aller Sehnsucht - wieder abgetragen werden zu können. Und - wie könnte es anders sein: die Wirkung folgt dem Sein - auch die Bestandteile der abgetragenen Mauer des Jochen Traar beleben, schützen und inspirieren. Nicht kalte Ziegel, scharfkantige Steinbrocken oder unhandliche Betonklumpen schleppen wir dann von uns, sondern eine Dosis wahrheitsfördernden Deliriacums begleitet uns, in dem wir erkennen, dass Leben, Schutz und Kunst zusammengehören, verbunden durch die richtige Menge Weins.
Mag. Wilhelm Pfeistlinger, Leiter des Österreichischen Kulturforums Berlin
Ich möchte Ihnen heute von zwei Gastmählern berichten, wovon dieses das Dritte ist. Und wenn mir als Redner zunächst das Wort erteilt wird, so mag es daran liegen, daß Reden und Trinken das Wesen des Gastmahles sind und sich dennoch ausschließen. Wird geredet, hat der Durst zu schweigen, hingegen setzt der Genuß von Wein das Verstummen des Trinkers voraus. In diesem Dilemma bewegen sich alle Zusammenkünfte nach Platon und erst in diesem gegenseitigen Aufschub von Sprechen und Trinken wird philosophisches Denken geboren.
Jochen Traar gehört einer Generation von Künstlern an, deren Praxis sich der Kritik des Betriebssystems Kunst verschrieben hat. Zum Bildhauer bei Bruno Gironcoli an der Wiener Akademie ausgebildet verschrieb er sich der skeptischen Befragung der ökonomischen und institutionellen Bedingungen künstlerischen Arbeitens. Seine Haltung beschränkt sich nicht auf Analyse und Kritik des Systems. Seine Haltung artikuliert sich im künstlerischen Sprechakt und das heißt: in Stoff, Form und Raum.
Und immer wieder ist da jenes Versprechen ART PROTECTS YOU, jedoch, ein Versprechen ohne Garantie, ein Sprechakt, der Kunst als persönliche Handlungsperspektive definiert. Jochen Traar ist ein Bildhauer in erweitertem Sinne: er kehrt zurück zur Skulptur und lässt sie doch weit hinter sich. Als Künstler ist er Initiator eines Prozesses, der nicht schon mit der Fertigstellung eines Objektes oder einer Installation ihr Ende findet. Jochen Traars Arrangements sind in erster Linie durch ihre Offenheit charakterisiert. Seine Arbeit ist die eines Strategen, der Skulpturen in Handlungen übersetzt. Er verfolgt keine verändernde Strategie, sondern agiert in seinen Experimenten gleichsam als Forscher, der mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, bestimmte Lagen untersucht.
ART PROTECTS YOU ist demnach mehr ein Angebot als ein Versprechen oder gar eine Erlösung. Der Künstler gibt mit seiner Installation lediglich einen Impuls und die Prozesse verselbstständigen sich je nach Interaktion des Publikums. Damit wird die Trennschärfe zwischen Produktion und Rezeption aufgehoben. Es ist dies ein Vorschlag an das Publikum, einen gemeinsamen Handlungsspielraum auszuloten.
Ich nehme wohl nicht zuviel vorweg, wenn ich verrate, daß im Zentrum der Ausstellung in den Räumen des Österreichischen Botschaft das Motiv der Gabe steht. Und damit möchte ich auf das erste der angekündigten Gastmähler zu sprechen kommen. Platons Symposion ist sicherlich das Vorbild aller Gastmähler, das auch uns heute als Nachfolger zusammenführt. Von Platon wird nun jene Zusammenkunft überliefert, die im Hause des Agathons Philosophen und Staatsmänner zum gemeinsamen Genussverzehr versammelt. Die Teilnehmer, unter ihnen Sokrates, sind noch sichtlich gezeichnet vom Gelage der vorigen Nacht, und so entschließt man sich, dem Genuß von Wein aufs weitere zu entsagen. "Überlegt also", so spricht der ebenfalls anwesende Pausanias, "auf welche Weise wir am behaglichsten trinken mögen".[1] Was aber machen Philosophen, wenn sie sich nicht dem "Wettkampf im Trinken" widmen? Sie huldigen dem Eros, ausgeführt als Rede-Wettkampf. Folgt man Friedrich Kittlers Gedanken „Vom Griechenland“, dann erscheint hier die prosaische Rede über die Liebe als Leerstelle einer Poesie des Rausches und alles, was der Rausch nicht leistet, übernimmt nun das Reden über den Eros. Nur so kann es kommen, daß alles europäische Rede über die Liebe mit verkaterten Männern beginnt.[2]
Der dem Rede-Gelage ebenfalls beiwohnende Phaidros erkennt nun im Eros den eigentlichen Patron der schönen Künste, denn "wohl jeder wird zum Dichter, den die Liebe berührt […]. Dies können wir wohl", so Phaidros weiter, "zum Beweise dafür gebrauchen, daß Eros selbst ein schaffender Geist ist überhaupt in allen Künsten der Musen." Die Macht des Eros ist die des Weichen, der die "Herrschaft der Notwendigkeit" aussetzt und "Freundschaft und Frieden" stiftet. Unnötig zu erwähnen, daß jenes Trinkverbot bei all der schönen Rede, die wie "aus dem volleren Becher in den leereren hinüberfließt", nicht lange aufrechtgehalten wurde.
Ich möchte nun zum zweiten angekündigten Gastmahl kommen. Wie schon bei Platon, so ist auch dieses im weiten Feld der Mythen und Legenden verortet, wenngleich wesentlich jüngeren Datums. Auch scheinen seine Protagonisten weniger vom Geiste der Schönheit und Liebe, als vielmehr von staatsmänischer Pragmatik getragen zu sein. Wir schreiben das Jahr 1955, als eine österreichische Delegation unter Bundeskanzler Julius Raab und Außenminister Leopold Figl nach Moskau reiste. Auf ihrer Agenda stand die Aufhebung der Teilung des Landes in vier Sektoren und die Ratifizierung eines eigenen Staatsvertrages. Die näheren Umstände dieser Reise zählen zu den ebenso verklärten wie liebgewonnenen Randnotizen der österreichischen Geschichtsschreibung, soll doch der Durchbruch in den Verhandlungen mit den sowjetischen Potentaten durch den Konsum von mitgebrachtem Grünen Veltliner aus der Wachau errungen worden sein. Erlauben Sie mir, noch einen Schritt weiter auf diesem dünnen Eis der Spekulation zu gehen. Es wäre dann dank der Wein-Offerte der österreichischen Delegation gelungen, Österreich vor einem „deutschen“ Schicksal zu bewahren, das uns mit einiger Wahscheinlichkeit eine "Wiener Mauer" beschert hätte.
Von Figl und seiner Trinkfestigkeit erzählt man sich in seiner Heimatstadt Tulln noch andere Geschichten. So soll er der Autor eines nach ihm benannten Flüssigkeitsmaßes gewesen sein: 1 Figl entsprach dem Äquivalent von 14 Vierteln, was umgerechnet 3,5 Litern ergibt. Wenn nun jeder von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, nur einen Figl Wein als Souvenir mit nach Hause nimmt, so erreichen wir bei einer geschätzten Besucherzahl von 150 summa summarum einen Rückbau der Flaschenwand um ein ganzes Drittel.
Jochen Traars Installation verweist neben dem Mauerfall noch auf ein weiteres Jubiläum. Denn vor genau fünfzig Jahren unterzeichneten die Künstler Daniel Spoerri, Marcel Duchamp und Dieter Roth die Gründungsakte des Multiples, worin folgendes geschrieben steht: "Das objektive Kunstwerk, das nicht statisch ist, das sich selbst verändert oder durch Mitwirkung des Betrachters verändert wird, gewinnt durch die Multiplikation. Erst die Multiplikation wird seinen unendlichen Möglichkeiten gerecht".[3]
Durch die Akkumulation von seriell hergestelltem Material, auch durch die pragmatische Ausführung der Installation unterwandert Jochen Traar die Funktion der Autorenschaft. Anders als beim künstlerischen Unikat gibt es beim Multiple keinen eindeutigen Verweis auf einen Ursprung, vielmehr handelt es sich um eine horizontale Befragung des "Immer Gleichen". Für das Multiple ist eben nicht entscheidend, ob der Künstler einzelne Partikel selbst gefertigt hat oder ob er sie produzieren lässt. Jochen Traars Ausstellung in der Österreichischen Botschaft demonstriert das in mehrfacher Weise: Der Künstler wird zum Programmierer eines Werkes, das durch seinen offenen Ausgang bestimmt ist. Die Autorenschaft bleibt selbst eine multiple und das Werk erreicht seine Vollendung nicht schon durch die Setzung des Künstlers, sondern in der soziale Interaktion mit dem Publikum.Und so möchte ich mit einem Zitat von Joseph Beuys schließen: „Wenn Ihr alle meine Multiples habt, dann habt Ihr mich ganz“.
Eröffnungsvortrag Jakob Racek, Berlin 2009.
1 Deutsche Übersetzung nach Annemarie Capelle (Hg.), Platon, Das Gastmahl. Hamburg 1960.
2 Kittler, Friedrich und Vismann, Cornelia, Vom Griechenland. Berlin 2001, S. 68ff.
3 zitiert nach Felix, Zdenek (Hg.), Das Jahrhundert des Multiple. Von Duchamp bis zur Gegenwart. Hamburg 1994.